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52° 29' 49'' N, 13° 21' 15'' E
Der Wind pfeift über die Kreuzung am Nollendorfplatz, zischt unter der Kuppel des Hochbahnhofs hindurch. Hübsch hässlich ist es hier — was der Krieg nicht zerstört hat, haben Flächensanierung und verkehrsgerechte Planung gründlich in grauen Beton gegossen. Farbe bringen die Menschen in den im 19. Jahrhundert angelegten „Generalszug”. Zeitweise betrug der Stimmenanteil der Alternativen Liste im Umkreis mehr als fünfzig Prozent.
Unter dem Pflaster ja da liegt der Strand.
Und auf dem Wochenmarkt am Winterfeldtplatz findet man schwäbische Maultaschen und griechische Oliven, türkische Pizza, karibisches Eis und arabische Schawarma. Rund 250 Stände bieten Blumen, Obst und Gemüse, handgenähten Taschen und Kleidung, Feinkost und Handwerkskunst, unzählige Teesorten und Brot für jeden Geschmack. Auf den umliegenden Bürgersteigen stehen Bänke und Tische der Lokale, hüllen sich sich Kauflustige aus ganz Berlin, Touristen und Anwohner in bereitliegende Fleecedecken.
Nicht weit von hier wohnten meinen Eltern in den ersten Jahren ihrer Ehe auf einem Zimmer zur Untermiete. Ende der fünfziger Jahre war Wohnraum knapp in Berlin — zu viel war zerstört, zu wenig konnte schnell gebaut werden. Mietpreisbindung für Altbauten war das Zauberwort, das die Westberliner Innenstadt trotzdem bezahlbar machte. Wohin hätten wir auch ausweichen können?
In große und kleine Wohnungen aus der Gründerzeit mit Ofenheizung und Flurtoilette zogen Familien, später Studenten, Migranten und Künstler aus aller Welt. Bis weit in die späten Achtziger konnte sich Berlin den Sonderstatus erhalten, leistete eine breite Front Widerstand gegen die Freigabe der Mieten. Inzwischen überrennt der globale Markt auch uns, weicht manches Bunte dem Luxus.
Noch aber wachsen Graswurzeln unter dem Pflaster.
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52° 27′ 0″ N, 13° 13′ 52″ E
Nein, das ist kein Herbstbild, sondern Frühlingsmorgensonne am Ufer der Krummen Lanke — idyllischer Treffpunkt für Jogger, die es nicht ganz so hart mögen und sich mit den zweieinhalb Kilometern Uferweg zufrieden geben.
Vor mir da liegt so still die Krumme Lanke.
Kein Lüftchen trübt den Wasserspiegel über sieben Metern tückischer Tiefe, in der Unterströmungen durch den Zufluss zum Schlachtensee lauern. Schon mancher ist hier ertrunken, und manche Leiche der jüngeren Deutsche Geschichte findet sich an der Grunewaldseenkette. Versunkene Wrackteile eines britischen Bombers stecken im schlammigen Untergrund, SS-Siedlungsbauten stehen unter Denkmalschutz.
Mitte der siebziger Jahre brachen die „Bewegung 2. Juni” und ihre Ableger gleich zwei Mal in die bürgerlich, beschauliche Welt Zehlendorfs ein. Im Juni 1974 wurde Ulrich Schmücker auf einem Waldweg neben der Krummen Lanke ermordet — eine Tat, die dank der ungeklärten Rolle des Verfassungschutzes und diverser verschwundener Beweismittel in fünfzehn Jahren und vier Gerichtsverfahren nicht aufgeklärt werden konnte. Ein Dreivierteljahr später wurde der CDU-Spitzenkandidat für das Bürgermeisteramt in Berlin auf der ein Stück höher liegenden Straße entführt — nur wenige Minuten von meinem Zuhause, auf einem Weg, den ich täglich nahm. Der Schrecken war auf einmal ganz nah, und zwei Bilder setzten sich in meinem Kopf fest: der entführte Peter Lorenz ohne Brille, ein Pappschild um den Hals, und die freigepressten RAF-Mitglieder an der Seite von Pastor Albertz auf der Gangway zum Flugzeug nach Jemen. Es war das erste und letzte Mal, dass solche Forderungen erfüllt wurden.
Zwei Jahre später befiel der Deutsche Herbst das Land, griff der Schrecken um sich, waren mehr Menschen durch Gewalt gestorben, wurden wir nachts von Polizisten mit Maschinenpistolen angehalten, verdächtigte jeder jeden der falschen Gesinnung.
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52° 27' 15" N, 13° 18' 20" E
Frühling gefunden
Der Himmel war so blau, wie er sein sollte, und die Sonne schien so hell, dass überall auf blassen Gesichtern Sonnenbrillen blitzten. Aber noch gab sich der Winter nicht geschlagen, zerrte kühl an ungeschützten Ohren und Stirnen.
Frühlings blaues Band flatterte wild durch die Lüfte und vor dem Botanischen Garten stauten sich die Besucher.
Im notorisch klammen Berlin ist Kreativität zur Erhaltung von Grünflächen und Gewächshäusern gefragt, allein mit den tröpfelnden staatlichen Zuschüssen würde der märkischen Sand zur Wüste, könnte man unter vor mehr als hundert Jahren errichteten Kuppeln aus Stahl und Glas höchstens noch heimisches Gemüse ziehen. Als Publikumsmagneten dienen Botanische Nächte, Sommerkonzerte, Themenwochen und ein Staudenmarkt, auf dem im Herbst und im Frühling neben Stauden — üblich, weniger üblich und vollkommen unbekannt —, alles angeboten wird, was das Herz der auf Nachhaltigkeit bedachten großstädtischen Gärtner und Gärtnerinnen erfreut — von fair gehandeltem Olivenöl bis zu ökologisch korrekter Schädlingsbekämpfung.
In diesem Jahr blühten in den ersten Beeten zaghaft Winterlinge, und an den Ständen keimte, versteckt in dunkler Erde oder an beinahe kahlen Stängeln, nur ein Versprechen, das in Tüten und Taschen, auf Wägelchen und Sackkarren nach Hause transportiert wurde. Kein Blättchen passte mehr zwischen ältere Paare, Grüppchen verschiedenster Nationen und junge Familien, deren Kinder auch einmal am Seil gesichert in die Bäume klettern wollten. Kein Sonnenstrahl blieb ungenutzt, kein Pflänzchen entging den aufmerksamen Augen.
Mein grüner Daumen ist nicht besonders ausgeprägt, den meisten Erfolg habe ich noch mit Blumenzwiebeln, die ich im Herbst im Beet verstreue. Unbeirrt von meiner Pflege und Winterhärten sprießen sie im Frühjahr rot, gelb und violett.
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52° 27' 42" N, 13° 18' 36" E
Auf der Suche nach dem verlorenen Frühling
Ja ja, ich weiß, es sind genug Worte über den schrecklichen Winter verloren worden. Doch er kann es einfach nicht lassen, stößt mich auf grauen Himmel, kahle Bäume und Triefnasenkälte, sobald ich einen Fuß vor die Tür setze. Tapfer stemmen sich die Glöckchen im Beet gegen Schnee und mumifizierte Herbstblätter — nur die Vögel singen.
Wenn ich ein Vögelein wäre, flög ich in den Frühling.
So dachten wohl auch meine Eltern und buchten zu Ostern 1971 im Zuge der ersten erschwinglichen Pauschalreisen und befeuert vom sanften Aufflackern eines familiären Wirtschaftswunders vierzehn Tage Teneriffa. Eine Reise auf einen anderen Kontinent, in eine andere Jahreszeit, wo wir bislang höchstens bis Bayern gekommen waren. Ich schlief kaum vor dem frühen Abflug.
Am stärksten sind mir die Farben in Erinnerung, tiefes Blau am Himmel, knallrote Blüten, Grün in allen Schattierungen, durch Zauberhand war der ewige Grauschleier Berlins verschwunden. Mein kleiner Bruder sprang in den Wellen, ich lag lieber im Schatten, las und entdeckte die wunderbare Welt der englischen Sprache, denn meinem dreizehnjährigen Lesehunger waren die mitgenommenen Bücher schon bald zum Opfer gefallen und als Alternative boten sich nur englische Taschenbuchausgaben. Love Story holte ich mir, den Film hatte ich schon gesehen. Ich las und heulte hinter meiner großen Sonnenbrille und in meinem Herzen keimte die große Liebe zum Englischen auf. Ich wollte mehr davon, mehr von den großen Gefühlen, der fremden Welt, selbst wenn ich von den nächsten, dickeren Büchern zunächst nur jedes dritte Wort verstand, und zu Hause im Wörterbuch nachschlagen musste. Was meine Begeisterung nicht minderte, sondern detektivischen Spürsinn entfachte.