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6° 28' 51" N, 80* 0' 18" E
Öl auf der Haut, im Haar - ein Fest für Fliegen und Mücken - sitzen wir massagematt auf der Terrasse, tragen wie Jünger eines sonderbaren Kults das Haupt mit Nesseltuch bedeckt und trinken bitteren Tee. Im Teich nebenan plätschert der Brunnen, über uns knistern die Fächer der Palmen und der Muezzin ruft per Lautsprecher zum Gebet. Auf der Feuchtwiese grasen Kühe, ein Waran wuselt durchs Gras, Vögel plustern sich auf und flüchten auf Zimtbäume.
Der Garten im Seetharama auf Sri Lanka ist ein Idyll, doch man täusche sich nicht: Eine Panchakarma-Kur ist kein lauer Wellness-Urlaub. So eine Grundreinigung fordert die ganze Frau und den ganzen Mann, obwohl außer essen, trinken und Massagen genießen eigentlich nichts zu tun ist.
In den ersten Tagen muss der Entzug bewältigt werden - grüne Suppe und heißes Wasser am Morgen sind nun mal kein Ersatz für Kaffee. Mein Schädel brummt, der Blutdruck fällt ins Bodenlose, der Kollaps naht, wohl auch wegen der troüisch schwülen Luft. Drei Tage, einige Kräuterdrinks und braune Pillen später misst die Ärztin einen Bilderbuchblutdruck.
Ein Wunder, doch noch ist das Tal der Leiden nicht durchschritten, ächzt und stöhnt es in den Knochen, die sich nur mühsam fortbewegen. Manches Mal möchte der Mann nach Hause, manches Mal frage ich mich, ob die Idee einer Ayurveda-Kur wirklich so gut war. Frage mich nicht mehr, sobald ich morgens den Behandlungspavillion betrete und mich kundigen, leicht rauen Händen überlasse. Kopf, Gesicht, der ganze Körper synchron mit vier Händen und zum Abschluss ein Kräuterbad unter freiem Himmel.
Ein paar Schritte hinaus aus unserem Garten haben wir auch schon gewagt, langsam und ganz gemächlich wie alle hier.
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52° 30' 24'' N, 13° 18' 30'' E
Der Film nimmt sich Zeit, viel Zeit, um von Sehnsucht zu erzählen, vom Träumen. Vier Stunden zeigt Die andere Heimat von Edgar Reitz in ruhigen Bilder und langen Einstellungen das harte Leben im Hunsrück Mitte des 19. Jahrhunderts. Vier Stunden in der schwarzweißen, engen Welt des Dorfes, in dem nur ab und zu ein Fünkchen Farbe, eine Hoffnung aufscheint, auch die Hoffnung auf ein besseres Leben. Vier Stunden mit vielen Abschieden — der Tod natürlich und Auswanderung ins gelobte Land Amerika. Hunderttausende deutsche „Armutsflüchtlinge” machten sich damals auf nach Südamerika, verließen ihre Heimat, um in der Ferne eine neue zu suchen. Der Film folgt ihnen nicht, wartet mit den Daheimgebliebenen auf Nachricht.
Schon lange habe ich nicht mehr in einem Film gewartet, oft ist mir hinterher eher schwindlig von den schnellen Schnitten, bin ich atemlos, weil so viel, so schnell passiert. Doch es ist so gewohnt und auch durchaus gemocht, dass ich mir normalerweise gar keine Gedanken darüber mache, erst die Erfahrung von Langsamkeit führt zu der Frage, wie und wann denn alles so schnell geworden ist?
Zeit ist eine physikalische Größe und beschreibt eine Abfolge von Ereignissen. So weit, so gut. Aber wie kann es dann eine schnellere und eine langsamere Zeit geben? Das ist Menschenwerk. Wir bewerten. Teilen ein in kurz und lang, setzen in Beziehung: 150 Jahre sind ein Klacks, erdgeschichtlich gesehen, können aber darüber entscheiden, ob ich flüchten muss oder gemütlich zu Hause sitzen bleiben kann. Will ich ein bestimmtes Ziel erreichen, wird die Zeit knapp, warte ich, kann sie ganz schön lang werden. Im Großen wie im Kleinen ist Zeit relativ.
Aber nicht nur die Filme sind schneller geworden, auch sonst folgen Ereignisse in immer schnellerem Takt aufeinander, und auch hier fällt mir das besonders nach drei Monaten langsamen Bootslebens auf. Ich fühle mich zu langsam, bin zu langsam, als stünde ich vor einem Paternoster und würde immer die richtige Zeit zum Aufspringen verpassen. Vorbei, vorbei, vorbei, ehe ich überhaupt ansetze.
Baby, you're out of time.
Aber wer hat den Paternoster gebaut? Zeit ist Geld. Zeit muss man effektiv nutzen. Das sind zumindest die Grundpfeiler. Der Takt der Maschinen bestimmt Ketten und Kabinen. Die Suche nach immer mehr Wachstum und Wohlstand treibt den Motor an. Obwohl Paternoster ein eher altmodisches Bild ist und daher schief, denn ein Paternoster, der so schnell fährt wie unser Leben, würde wegen Überlastung auseinanderfliegen.
Aber egal: In dem wunderbaren Dokumentarfilm Speed — auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Florian Opitz werden die komplizierten Zusammenhänge viel genauer untersucht, als ich sie hier beschreiben kann. Vor allem zwei Dinge sind mir daraus in Erinnerung geblieben.
1. Entschleunigung geht nur mit Verzicht auf einen Teil der vielen Möglichkeiten, die sich tagtäglich bieten, und
2. die Anfangssequenz, in der Opitz immer wieder seinen kleinen Sohn zum Weitergehen bewegen will, der aber auf der Straße so viele interessante Dinge entdeckt. Spazierenstehen habe ich das bei meinen Kindern genannt. Reine Zeitverschwendung, die mich manches Mal zum Wahnsinn getrieben hat, und Anschauungsunterricht für ganz im Augenblick sein, was nur ein anderer Ausdruck für Glück ist.
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52° 27' 34'' N, 13° 18' 34'' E
Im Hintergrund das sanfte Brummen der Großstadt, im Garten hängen Äpfel am Baum, färbt sich die Buche. Herbst liegt in der Luft.
Vertraut und doch fremd. Rechnungen bezahlen, Steuerbelege sortieren, Post beantworten. Viel zu schnell der Verkehr, viel zu früh der Tag vorbei, viel zu furchtbar die Nachrichten.
Home is where … ?
Welch Privileg, ein Heim zu haben, in das man zurückkehren kann. Weltweit sind über 40 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Hunger. Die meisten finden in Entwicklungsländern Asyl, die Hälfte lebt in Ländern mit einem Pro-Kopf-Einkommen unter 5000 US-Dollar. Viele wollen nach Europa in ein besseres Leben fliehen und fahren in den Tod — so selbstverständlich Europa die Globalisierung für ungebremstes Wachstum nutzt, so streng werden die Außengrenzen abgeschottet.
Auch nach den vielen Toten vor Lampedusa soll sich daran nichts ändern. Geld gibt es für Grenzsicherungsmaßnahmen, für Frontex, für schnelle Boote und mehr Personal auf afrikanischer Seite. Der Strom der Flüchtlinge wird damit nicht eingedämmt, nur die Risiken für die verzweifelten Menschen werden größer: Die Zahl der Toten steigt, die Überlebenden fristen ein Leben unter menschenunwürdigen Bedingungen in überfüllten Flüchtlingslagern oder in der Illegalität, werden abgefangen oder abgeschoben ins Ungewisse.
Und ein deutscher Innenminister schürt die Angst, rückt den Rechtsstaat in die rechte Ecke.
Und wie fast alle anderen europäischen Staaten hat Deutschland die UN-Konvention zum Schutz der Rechte von Migranten weder unterzeichnet noch ratifiziert.
Und es gibt immer noch kein vernünftiges Einwanderungsgesetz.
Vor ein paar Jahren nahm ich Teil am langen Kampf einer iranischen Frau teil — am Kampf um ein freies, sicheres Zuhause, um die Möglichkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen, um ein Leben ohne Angst. Sie hat es geschafft, lebt und arbeitet legal in unserem Land. Sollten die deutschen Pläne umgesetzt werden, hätten Menschen wie sie keine Chance mehr.
Unser Grundgesetz erklärt die Menschenwürde für unantastbar, ohne Ausnahme, ohne Einschränkung. Alle Menschen sind gleich. Was ist daran so schwer zu verstehen?
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53° 44' 25'' N, 14° 2' 54'' E
Noch einmal das Haff — nebelgrau, windig und kalt. Flach ist das Wasser, gefährlich schnell geraten Boote in Schieflage, dumpf dröhnend läuft ein Rettungskreuzer aus.
Hinter der Uekermündung wird es still. Grün das Ufer, neu die Befestigungen, in hellen Farben herausgeputzt die Häuser. Am Pier 24 legen wir an, machen fest, ziehen das Segel straff, schließen den Reißverschluss der Baumpersenning und stellen die Kuchenbude auf.
Unsere Reise geht zu Ende. Volver wird hier überwintern, in der Grenzregion, wo sich Polen am örtlichen Tierpark beteiligt, Radwege zu beiden Seiten der Grenze mit öffentlichen Mitteln beider Staaten finanziert werden. Näher kann man es als Berliner nicht zum Meer haben. Vier Segelvereine gibt es, drei Werften und einen großen kommerziellen Hafen. Ein freundlicher, ruhiger Ort, genau das Richtige, um sich wieder an das etwas schnellere Tempo des Lebens an Land zu gewöhnen.
Tagsüber ist es belebter, geht im Café schon mal der Kuchen aus, doch am Abend setzt sich das Motto unserer Fahrt erneut durch, sitzen wir zwischen leeren Stühlen, spielen sie den Film nur für uns im Stadtkino, das am 3. Oktober in neuem Glanz erstrahlen soll.
Die Haffzeitung bringt einen großen Artikel über die Rettung zweier Segler von ihrer gekenterten Jolle und einen kleineren über die Orte der Region, in denen die NPD zehn Prozent bei den Bundestagswahlen erreicht hat.
In der bundesdeutschen Wirklichkeit blühen Landschaften und Wirtschaft an verschiedenen Orten, siegt auf dem Wahlzettel die Krise.
Ich möchte am liebsten weg sein und bleibe am liebsten hier …