- Details
53° 44' 1'' N, 10° 5' 10'' E
Doch der Himmel kennt kein Erbarmen — alle Schleusen weit geöffnet stürmt und wütet er im Wonnemonat Mai. Dabei geht es doch an diesem Tag um die Liebe, leuchten Kleider und Gesichter um die Wette, soll Hochzeit in und um das Haus Gottes gefeiert werden.
Maybe there is a God above ...
Gott und ich haben ein eher gespanntes Verhältnis. Das fing mit unerfüllten Kinderbitten an und setzte sich, nachdem ich dem magischen Denken entwachsen war, mit einer handfesten Glaubenskrise fort. Wie konnte der „Liebe Gott” aus den schönen Geschichten, die uns die Religionslehrerin Frau Trautmann in der Grundschule erzählt hatte, bloß zulassen, dass Kriege wüteten, Hunger und Gewalt herrschten, Krankheiten Leben vernichteten. Vor allem die Kriege setzten mir zu, nicht genug mit zwei Weltkriegen, mit Atombomben und Konzentrationslagern, nein, es hörte und hörte nicht auf in diesem schrecklichen 20. Jahrhundert (die Welt würde auch im 21. keinen Frieden finden, was ich zum Glück damals noch nicht wusste). Gottvater half weder im Kleinen noch im Großen, war ebenso ein Versager wie die anderen Väter und Überväter, die ich nach und nach vom Thron schubste.
Ich wandte mich der irdischen Liebe zu, der Politik, der Esoterik und vergaß Gott, aber nie die Sehnsucht nach ... einer Art Glauben. Meine Suche führte zu den üblichen Verdächtigen — zu linken Gedanken, therapeutischen Ansätzen und spirituellen Meistern. Ich traf Menschen, die ich bewunderte, entdeckte Werte, die mir gefielen, doch immer kam der Punkt, an dem Zweifel auftauchten, und Glaube rückte in weite Ferne. Geblieben ist eine größere Gelassenheit mit dem Unheil in der Welt, mit den eigenen Widersprüchen und den unvollkommenen höheren Mächten.
Vielleicht ist es wie mit dem Glück, vielleicht ist Glaube nur im Augenblick möglich — in einem Moment der vollkommenen Stille in der Meditation, beim Gesang in einer Kirche im Norden Deutschlands oder bei den einfachen Worten Gott ist die Liebe.
I'll sing with nothing on my tongue but Hallelujah.
- Details
52° 27' 34'' N, 13° 18' 34'' E
Manchmal ist Regen ein Segen, leeren sich Straßen, wird es still für Sekunden, Minuten — atmet alles auf und hält inne. Man muss nicht hinaus, darf verweilen, nichts tun, ist kurz ausgebremst vor dem nächsten Salto, der nächsten Pirouette.
Raindrops keep falling ...
Von wegen süßes Nichtstun — Stillstand ist Rückgang heißt das Credo, „Wir brauchen Wachstum” schallt es von überall. Ein Wirtschaftswunder kommt ja nicht von ungefähr. da kann man doch nicht einfach dasitzen und dem Regen zuschauen wie ich oder sich auf einer Bank im Park unterhalten wie der junge und der ältere Mann im Roman Ich nannte ihn Krawatte von Milena Michiko Flašar. Dort sind zwei aus dem Rennen ausgestiegen, hat sich der Junge vor der Welt in sein Zimmer zurückgezogen, konnte der Ältere nicht mehr mithalten und wurde entlassen. Sie erzählen von ihren Versuchen, sich anzupassen, vom Schweigen und Mitmachen, von Schuld und Scham; Japan ist auf einmal gar nicht mehr fern, sondern ein erschreckend naher Spiegel gesellschaftlichen Wahnsinns.
1975 veröffentlichte Martin Seligman seine Studie zur „Erlernten Hilflosigkeit” und entwickelte daraus ein Erklärungsmodell zum Entstehen von Depression. Das Ursprungsexperiment bestand aus zwei Phasen: In der ersten „lernte” ein Gruppe von Hunden, dass sie Stromschläge nicht vermeiden konnten, in der zweiten nutzten die meisten die nun angebotene Fluchtmöglichkeit nicht mehr, sondern ließen die Stromstöße lethargisch über sich ergehen.
Bei uns Menschen ist es ein wenig komplizierter.
Wenn es keine Handlungsmöglichkeiten gibt, wenn etwas „alternativlos” ist, entwickelt man keine neuen Ideen, schickt sich ins Unvermeidliche, leidet still oder rennt weiter bis zur Erschöpfung, zum „Burn-out”. Es bleibt höchstens noch die Totalverweigerung — nicht mehr handeln, nicht mehr fühlen, nicht mehr am Leben teilnehmen.
Der junge Mann im Roman entscheidet sich für das Leben, für einen neuen Anfang. Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal, heißt es im Märchen.
Der Regen hat aufgehört — die Vögel singen.
- Details
52° 25' 24'' N, 13° 19' 19'' E
Strahlend blauer Himmel über dem Hermann-Ehlers-Platz, die Platanen schlagen aus — bald tränen Augen, reizen Sporen zu Niesanfällen. Doch noch erkenne ich den ersten Spargel ohne Schleier, sehe deutlich die eingefrästen Namen und Bilder auf der verchromten Spiegelwand inmitten des Wochenmarkts.
Spieglein, Spieglein ... nein, klein ist er nicht, der neun Meter lange und dreieinhalb Meter hohe Spiegel zum Gedenken an jüdisches Leben in Steglitz, an die deportierten jüdischen Mitbürger. 1.723 Namen und Adressen stehen auf der Tafel, umrahmen Bilder der Synagoge, des Chanukkafestes. Fast zu schön ist sie für den hässlichen zubetonierten Platz am Rande von Autobahn und S-Bahn-Gleisen. Im Bezirk stritt man lange um die Aufstellung, den Abgeordneten von CDU, FDP und Republikanischer Partei war die Wand zu groß, zu teuer ... erinnerte nicht dezent, sondern laut in der ganzen Länge der früheren Steglitzer Synagoge.
Gäbe es nicht genug ... sollte nicht endlich ein Ende sein ... musste es nun auch noch hier ...
Vergeben, aber nicht vergessen stand über einer Gedenkstätte, die ich mit vierzehn auf einer Klassenreise in Paris besuchte. Das verstand ich damals nicht, wollte nicht an all das Schreckliche erinnert werden, wollte mich nicht schuldig fühlen für etwas, was lange vor meiner Geburt geschehen war. Schweigen, wegschauen und bloß nicht nachfragen, so hielt man es bei uns wie in vielen Familien. Später, viel später brachen Theater und Film das Schweigen, warfen Gedichte und Romane Fragen auf. Wie ... warum ... gab es Worte ... konnte Sprache? Ich entdeckte jiddische Lieder, fand Vertrautes in Kunst und Poesie, verzweifelte am Nahost-Konflikt.
"זכור" steht auf der Schmalseite der Wand: gedenke. Ich schaue in den Spiegel. Das kann ich tun — hinschauen und gedenken.
- Details
52° 21‘ 36‘‘ N, 04° 53‘ 06‘‘ E
In Amsterdam keimt frisches Grün an den Zweigen der Ulmen, neigen schmale Häuser ihre Giebel vor den Grachten, führen dunkle Wasser unter unzähligen Brücken zum Hafen.
Dans les ports d‘Amsterdam ... deine Kais Amsterdam ... und dein unebenes Pflaster, der Pulk der Fußgänger und Fahrradfahrer, der blaue Himmel, der selbst das Grachtenwasser zum Leuchten bringt.
An Land heißt es: Vorfahrt für Fietsen, klingeln in schöner Regelmäßigkeit Fahrradglocken auf Brücken und in Gassen. So war es eigentlich auch nicht verwunderlich, dass die Wogen der Entrüstung hoch schlugen, als der spanische Architekt bei der Renovierung des Rijksmuseums die Fahrradpassage durch das Museum streichen wollte. Über hundert Jahre mussten Besucher, die von einem Teil des Museums ins den anderen gelangen wollte, in den zweiten Stock und dann auf der anderen Seite wieder hinunter, nun sollte ein großzügiger Eingangsbereich die Gebäude ebenerdig verbinden, sollte das Tor in der Mitte nur noch zu Kunst und Geschichte führen.
Doch Fietsen kann man nicht aussperren. Die fertigen Pläne mussten ein ums andere Mal überarbeitet werden. Man munkelt allerdings, die nach beinahe zehn Jahren zähen Ringens gefundene Lösung hätte die Nerven des Direktors strapaziert und dem Architekten Tränen in den Augen getrieben. Über die Gefühlslage der Radfahrer ist nichts bekannt.
Nun steht das Gebäude wieder auf trockenen Fundamenten, ist der alte Glanz von weißer Schlämmfarbe befreit, haben Bilder und Besucher Luft zum Atem, strahlen Rembrandts Nachtwache und Vermeers Milchmädchen im einzigen Museum der Welt, durch das ein Fahrradweg führt — Besucher gelangen unterirdisch auf die andere Seite.