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52° 27' 34'' N, 13° 18' 34'' E
Manchmal ist Regen ein Segen, leeren sich Straßen, wird es still für Sekunden, Minuten — atmet alles auf und hält inne. Man muss nicht hinaus, darf verweilen, nichts tun, ist kurz ausgebremst vor dem nächsten Salto, der nächsten Pirouette.
Raindrops keep falling ...
Von wegen süßes Nichtstun — Stillstand ist Rückgang heißt das Credo, „Wir brauchen Wachstum” schallt es von überall. Ein Wirtschaftswunder kommt ja nicht von ungefähr. da kann man doch nicht einfach dasitzen und dem Regen zuschauen wie ich oder sich auf einer Bank im Park unterhalten wie der junge und der ältere Mann im Roman Ich nannte ihn Krawatte von Milena Michiko Flašar. Dort sind zwei aus dem Rennen ausgestiegen, hat sich der Junge vor der Welt in sein Zimmer zurückgezogen, konnte der Ältere nicht mehr mithalten und wurde entlassen. Sie erzählen von ihren Versuchen, sich anzupassen, vom Schweigen und Mitmachen, von Schuld und Scham; Japan ist auf einmal gar nicht mehr fern, sondern ein erschreckend naher Spiegel gesellschaftlichen Wahnsinns.
1975 veröffentlichte Martin Seligman seine Studie zur „Erlernten Hilflosigkeit” und entwickelte daraus ein Erklärungsmodell zum Entstehen von Depression. Das Ursprungsexperiment bestand aus zwei Phasen: In der ersten „lernte” ein Gruppe von Hunden, dass sie Stromschläge nicht vermeiden konnten, in der zweiten nutzten die meisten die nun angebotene Fluchtmöglichkeit nicht mehr, sondern ließen die Stromstöße lethargisch über sich ergehen.
Bei uns Menschen ist es ein wenig komplizierter.
Wenn es keine Handlungsmöglichkeiten gibt, wenn etwas „alternativlos” ist, entwickelt man keine neuen Ideen, schickt sich ins Unvermeidliche, leidet still oder rennt weiter bis zur Erschöpfung, zum „Burn-out”. Es bleibt höchstens noch die Totalverweigerung — nicht mehr handeln, nicht mehr fühlen, nicht mehr am Leben teilnehmen.
Der junge Mann im Roman entscheidet sich für das Leben, für einen neuen Anfang. Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal, heißt es im Märchen.
Der Regen hat aufgehört — die Vögel singen.
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52° 25' 24'' N, 13° 19' 19'' E
Strahlend blauer Himmel über dem Hermann-Ehlers-Platz, die Platanen schlagen aus — bald tränen Augen, reizen Sporen zu Niesanfällen. Doch noch erkenne ich den ersten Spargel ohne Schleier, sehe deutlich die eingefrästen Namen und Bilder auf der verchromten Spiegelwand inmitten des Wochenmarkts.
Spieglein, Spieglein ... nein, klein ist er nicht, der neun Meter lange und dreieinhalb Meter hohe Spiegel zum Gedenken an jüdisches Leben in Steglitz, an die deportierten jüdischen Mitbürger. 1.723 Namen und Adressen stehen auf der Tafel, umrahmen Bilder der Synagoge, des Chanukkafestes. Fast zu schön ist sie für den hässlichen zubetonierten Platz am Rande von Autobahn und S-Bahn-Gleisen. Im Bezirk stritt man lange um die Aufstellung, den Abgeordneten von CDU, FDP und Republikanischer Partei war die Wand zu groß, zu teuer ... erinnerte nicht dezent, sondern laut in der ganzen Länge der früheren Steglitzer Synagoge.
Gäbe es nicht genug ... sollte nicht endlich ein Ende sein ... musste es nun auch noch hier ...
Vergeben, aber nicht vergessen stand über einer Gedenkstätte, die ich mit vierzehn auf einer Klassenreise in Paris besuchte. Das verstand ich damals nicht, wollte nicht an all das Schreckliche erinnert werden, wollte mich nicht schuldig fühlen für etwas, was lange vor meiner Geburt geschehen war. Schweigen, wegschauen und bloß nicht nachfragen, so hielt man es bei uns wie in vielen Familien. Später, viel später brachen Theater und Film das Schweigen, warfen Gedichte und Romane Fragen auf. Wie ... warum ... gab es Worte ... konnte Sprache? Ich entdeckte jiddische Lieder, fand Vertrautes in Kunst und Poesie, verzweifelte am Nahost-Konflikt.
"זכור" steht auf der Schmalseite der Wand: gedenke. Ich schaue in den Spiegel. Das kann ich tun — hinschauen und gedenken.
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52° 21‘ 36‘‘ N, 04° 53‘ 06‘‘ E
In Amsterdam keimt frisches Grün an den Zweigen der Ulmen, neigen schmale Häuser ihre Giebel vor den Grachten, führen dunkle Wasser unter unzähligen Brücken zum Hafen.
Dans les ports d‘Amsterdam ... deine Kais Amsterdam ... und dein unebenes Pflaster, der Pulk der Fußgänger und Fahrradfahrer, der blaue Himmel, der selbst das Grachtenwasser zum Leuchten bringt.
An Land heißt es: Vorfahrt für Fietsen, klingeln in schöner Regelmäßigkeit Fahrradglocken auf Brücken und in Gassen. So war es eigentlich auch nicht verwunderlich, dass die Wogen der Entrüstung hoch schlugen, als der spanische Architekt bei der Renovierung des Rijksmuseums die Fahrradpassage durch das Museum streichen wollte. Über hundert Jahre mussten Besucher, die von einem Teil des Museums ins den anderen gelangen wollte, in den zweiten Stock und dann auf der anderen Seite wieder hinunter, nun sollte ein großzügiger Eingangsbereich die Gebäude ebenerdig verbinden, sollte das Tor in der Mitte nur noch zu Kunst und Geschichte führen.
Doch Fietsen kann man nicht aussperren. Die fertigen Pläne mussten ein ums andere Mal überarbeitet werden. Man munkelt allerdings, die nach beinahe zehn Jahren zähen Ringens gefundene Lösung hätte die Nerven des Direktors strapaziert und dem Architekten Tränen in den Augen getrieben. Über die Gefühlslage der Radfahrer ist nichts bekannt.
Nun steht das Gebäude wieder auf trockenen Fundamenten, ist der alte Glanz von weißer Schlämmfarbe befreit, haben Bilder und Besucher Luft zum Atem, strahlen Rembrandts Nachtwache und Vermeers Milchmädchen im einzigen Museum der Welt, durch das ein Fahrradweg führt — Besucher gelangen unterirdisch auf die andere Seite.
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52° 29' 49'' N, 13° 21' 15'' E
Der Wind pfeift über die Kreuzung am Nollendorfplatz, zischt unter der Kuppel des Hochbahnhofs hindurch. Hübsch hässlich ist es hier — was der Krieg nicht zerstört hat, haben Flächensanierung und verkehrsgerechte Planung gründlich in grauen Beton gegossen. Farbe bringen die Menschen in den im 19. Jahrhundert angelegten „Generalszug”. Zeitweise betrug der Stimmenanteil der Alternativen Liste im Umkreis mehr als fünfzig Prozent.
Unter dem Pflaster ja da liegt der Strand.
Und auf dem Wochenmarkt am Winterfeldtplatz findet man schwäbische Maultaschen und griechische Oliven, türkische Pizza, karibisches Eis und arabische Schawarma. Rund 250 Stände bieten Blumen, Obst und Gemüse, handgenähten Taschen und Kleidung, Feinkost und Handwerkskunst, unzählige Teesorten und Brot für jeden Geschmack. Auf den umliegenden Bürgersteigen stehen Bänke und Tische der Lokale, hüllen sich sich Kauflustige aus ganz Berlin, Touristen und Anwohner in bereitliegende Fleecedecken.
Nicht weit von hier wohnten meinen Eltern in den ersten Jahren ihrer Ehe auf einem Zimmer zur Untermiete. Ende der fünfziger Jahre war Wohnraum knapp in Berlin — zu viel war zerstört, zu wenig konnte schnell gebaut werden. Mietpreisbindung für Altbauten war das Zauberwort, das die Westberliner Innenstadt trotzdem bezahlbar machte. Wohin hätten wir auch ausweichen können?
In große und kleine Wohnungen aus der Gründerzeit mit Ofenheizung und Flurtoilette zogen Familien, später Studenten, Migranten und Künstler aus aller Welt. Bis weit in die späten Achtziger konnte sich Berlin den Sonderstatus erhalten, leistete eine breite Front Widerstand gegen die Freigabe der Mieten. Inzwischen überrennt der globale Markt auch uns, weicht manches Bunte dem Luxus.
Noch aber wachsen Graswurzeln unter dem Pflaster.